Wir leben im Zeitalter des "Neoliberalismus". Ursprünglich reine Wirtschaftstheorie durchdringt er inzwischen alle Bereiche unseres Lebens. Das hat den Vorteil, dass seine Fehler und gesellschaftlich verursachten Verwerfungen immer offensichtlicher werden. So zum Beispiel von den rasant wachsenden Unterschieden zwischen Arm und Reich und von seiner sattsam bekannten Erbarmungslosigkeit in Sachen Fressen und Gefressenwerden (siehe auch Worum es geht). Allerdings auch den Nachteil, dass ihn das von ihm dadurch vermittelte Gefühl der "Alternativlosigkeit" immer unüberwindlicher machen.
Doch ändert das was an seinen Verwerfungen, die letztlich sogar unsere ganze Erde bedrohen? Durch grenzenloses Bevölkerungswachstum und Ausnutzen unserer irdischen Ressourcen zum Beispiel?
Also bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Alternativen zum Neoliberalismus zu suchen.
Vorschlag
Wir müssen den Neoliberalismus Stück für Stück verstehen lernen. Nicht alles an ihm in einem Anfall von Trotz jetzt gleich in Bauch und Bogen verwerfen - nur so kommen wir weiter. Wir fangen also einfach an zu klären: Was macht ihn eigentlich aus? Was ist eigentlich der Kern dieser Ideologie? Worum rankt sich bei ihm eigentlich alles? Um dann zu sehen und zu entscheiden: Was genau ist an ihm denn nun schlecht? Gibt es nicht doch auch Gutes an ihm oder was an Nachteiligem durch neue Setzungen und Gesetze vielleicht mindestens reduziert werden kann? Doch dazu Weiteres unter Systemuntersuchung.
Hier erst mal Näheres zur Begriffsklärung und Historie "Neoliberalismus":
Begriffsklärung und Historie
"Kapitalismus" und "Neoliberalismus" bzw. "neoliberal" und "kapitalistisch"werden einander gern gleichgesetzt (synonym verwendet). Aus heutiger Sicht ist diese Gleichsetzung richtig, aus der Historie heraus allerdings nicht:
Kapitalismus
Der Kapitalismus ist eine Wirtschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln (Boden und Kapital) beruht und die ohne Rücksicht auf soziale Belange das Prinzip „Gewinnmaximierung“ verfolgt („freie“ Marktwirtschaft, „Laissez-faire-Liberalismus“, „Manchesterkapitalismus“). Damit produzierte er bis hinein in die 1930er Jahre ("Große Depression") erhebliche soziale Verwerfungen, die in Deutschland schließlich zur Machtergreifung Hitlers führten.
Neoliberalismus
Die Geburtsstunde des Wortes „Neoliberalismus“ war 1938 auf dem „Colloque Walter Lippmann“ in Paris, einer Gesprächsrunde, an der namhafte Persönlichkeiten und Ökonomen wie Wilhelm Röpke, Ludwig von Mises, Friedrich von Hayek teilnahmen (Wolfgang Köhler „Zeitgeschichte - Die Mission des Liberalismus“ in: DIE ZEIT, 07.08.2008 Nr. 33). Durch die Große Depression waren der Liberalismus und seine "kapitalistischen" Vorstellungen von Wirtschaft völlig diskreditiert. Nun wurde überlegt, wie man dem Liberalismus unter neuem Namen und mit neuen, "geläuterten"Ideen liberal-kapitalistischer Wirtschaftsführung neue Geltung verschaffen könnte. Neben der Diskussion von Alternativen wie "Neo-Kapitalismus" und "konstruktiver Liberalismus" einigte man sich schließlich auf „Neoliberalismus“.
Die Idee "Neoliberalismus"
Zur Zeit seiner Namensfindung war der "Neoliberalismus" bereits reichlich mit neuen wirtschaftstheoretischen Ideen gefüllt, und zwar in großem Umfang mit denen der Anfang der 1930er Jahre entstandenen „Freiburger Schule“ (Ordoliberalismus) und mit denen der „Chicago School“. Den einen ging es als Lehre aus den Verwerfungen des "alten" Kapitalismus um die Beschränkung wirtschaftlicher Macht (Kartellgesetzgebung, Förderung und Erhalt des Wettbewerbs (Freiburger Schule). Den anderen um die Beschränkung staatlicher Macht ("keine staatlichen Eingriffe!", "kein Interventionismus!") und dadurch die Erlangung größtmöglicher wirtschaftlicher Freiheit (Chicago School).
In der Nachkriegsgeschichte übte neben der Chicago School die 1947 von Friedrich August von Hayek gegründete Denkfabrik „Mont Pelerin Society“ großen Einfluss aus. Ihr gehörten dem Liberalismus stark verbundene, zumindest aber nahe stehende Persönlichkeiten wie zum Beispiel Walter Eucken, Ludwig von Mises, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard und Milton Friedman an, Namen also, die auch auf dem „Colloque Walter Lippmann“ teilweise schon sehr präsent waren.
Über Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard wurde schließlich noch die Idee der "sozialen Marktwirtschaft" hineingetragen: „Es bedeutet dies, dass uns die Marktwirtschaft notwendig als das tragende Gerüst der künftigen Wirtschaftsordnung erscheint, nur dass dies eben keine sich selbst überlassene liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll“ (Alfred Müller-Armack: “Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, 1947, S. 88 – Quelle Wikipedia). Daraus wurde weltweit aber so gut wie nichts, in Deutschland immerhin ein wenig zur Zeit des "Rheinischen Kapitalismus" (also bis ca. 1970er Jahre). Warum? Wegen "Bretton Woods":
Bretton Woods
Beim "Bretton Woods"- Abkommen, welches 1944 die Schaffung einer stabilen Weltfinanzordnung zum Ziel hatte, sollte neben den uns heute als "Internationaler Währungsfonds" und "Weltbank" bekannten Säulen nämlich noch eine dritte Säule "ITO" eingezogen werden mit internationalen Sozial- und Umweltstandards und Garantien für Arbeitnehmer und Rohstoffproduzenten. Auf Betreiben der Amerikaner als Ausfluss aus den Lehren der Chicago School wurde das aber verhindert: Es kam zwar zu einer "dritten" Säule (zur heutigen "WTO" - World Trade Organisation ), die beschäftigt sich aber wie alle anderen Säulen auch wieder nur mit dem Fördern des Handels und der "Märkte". Soziales/Einführung von Sozialstandards? Fehlanzeige.
Und so hat der Neoliberalismus gleich zu Beginn seiner ehemals guten Absichten versagt. Wäre es ihm als Lehre aus der "Großen Depression" wirklich darum gegangen "Kapitalistisches" und "Soziales" miteinander zu versöhnen, hätte er es zur Aushöhlung dieser "dritten" Säule WTO niemals kommen lassen dürfen. Forderungen nach Sozialstandards hätten in alle Überlegungen und Abkommen zur dritten Säule "WTO" ohne Wenn und Aber hineingehört. Stattdessen wurden sie sang- und klanglos aufgegeben. Doch der Zug geht auch heute noch immer weiter in die falsche Richtung. Das lässt sich hineinverfolgen bis in den deutschen Einigungsvertrag".
Einigungsvertrag
Der "Einigungsvertrag" ("Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR") beginnt nämlich in seinem Artikel 1 wie folgt:
(1) Die Vertragsparteien errichten eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. [...]
(3) Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen; hierdurch wird die gesetzliche Zulassung besonderer Eigentumsformen für die Beteiligung der öffentlichen Hand oder anderer Rechtsträger am Wirtschaftsverkehr nicht ausgeschlossen, soweit private Rechtsträger dadurch nicht diskriminiert werden. Sie trägt den Erfordernissen des Umweltschutzes Rechnung.
(4) Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung. (Hervorhebungen von mir).
Auswertung
Absätze 1 und 2: Zwar ist von"Sozialunion" und "sozialer Marktwirtschaft" die Rede, doch anschließend geht es nur noch um "Wirtschaftliches". Danach wird die soziale Marktwirtschaft "insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb". Durch "freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen“.
**Öffentliches Eigentum darf es also nur noch dann geben, wenn es private Rechtsträger nicht "diskriminiert".*** Das ist "kapitalistische" Marktwirtschaft, aber nicht "soziale Marktwirtschaft".
Erst im Absatz 4 (also erst sehr viel weiter hinten) wird nochmal auf "Soziales" eingegangen. Dort ist dann aber plötzlich alles viel weniger festgeklopft. Und was festgeklopft ist, ist von den Begrifflichkeiten her bestens angepasst an die Wirtschaftsbelange des Absatzes 1, (man achte nur auf die verwendeten Begrifflichkeiten: "Arbeitsrechtsordnung" und "Leistungsgerechtigkeit" zum Beispiel. Alles andere verliert sich im Ungefähren. _Und so kann daraus nach Lust und Laune dann alles Mögliche herauskommen. Zum Beispiel "Sozial ist das, was Arbeit schafft", was im Endergebnis auf nichts anderes hinausläuft als auf Arbeitszwang für alle zu Hungerlöhnen (Niedriglöhnen). Alles ja bestens zu besichtigen an der von Rot/Grün "verbrochenen" Hartz IV-Gesetzgebung. "Verbrochen" warum? Weil darin überhaupt nicht berücksichtigt wurde, dass es gar nicht genügend Arbeitsplätze gibt, um die nur zu gern als "Sozialschmarotzer" verfemten Arbeitslosen tatsächlich in Arbeit zu bringen. Da hilft weder "Fördern" noch "Fordern" (siehe nachfolgend meinen Beitrag "Arbeitslosigkeit").
Ergebnis
Bis in den Einigungsvertrag hinein ist also unter "kapitalistisch"-ideologischen Gesichtspunkten äußerst geschickt angelegt, was der Kapitalismus schon immer wollte:
Zuerst die Wirtschaft - dann der Mensch!
- Kein Wort davon, dass man die Reihenfolge vielleicht auch mal umdrehen könnte oder sogar sollte, wenn die Situation es erfordert.
- Kein Wort davon z.B., dass Eigentum auch verpflichtet, so wie es unser Grundgesetz noch vorsieht.
In diesem Einigungsvertrag wurde einseitig pure kapitalistische Ideologie verankert, die mit den Bedürfnissen und Anliegen von uns Menschen und auch mit dem Geist unseres Grundgesetzes nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat. Genauso verhält es sich übrigens mit den europäischen Verträgen, aber das hier auch noch herauszuarbeiten, würde zu weit führen.
Auch deshalb halte ich es für dringend erforderlich, nach Alternativen zum Kapitalismus/Neoliberalismus heutiger Prägung (mindestens nach den Möglichkeiten zu seiner Transformation) Ausschau zu halten.
Dazu möchte ich mich mit Ihnen nun in das Theoriengebäude des Neoliberalismus (um nicht zu sagen "Neokapitalismus"!) begeben. Ich halte es für wichtig zu verstehen, dass alles, was wir heute an Politik, insbesondere an Wirtschaftspolitik erleben, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern einem exakten wirtschaftstheoretischen Drehbuch folgt. Einem Drehbuch, dessen Umsetzung bis in die heutigen Tage hinein mit äußerster Konsequenz, um nicht zu sagen Brutalität verfolgt wird.
Das gibt andererseits auch wieder Hoffnung, denn findet sich erst mal eine andere (hoffentlich dann sozialere) Theorie, ließe sich deren Umsetzung ja auch mit äußerster Konsequenz bis in die tägliche Praxis hinein verfolgen. Mit hoffentlich dann besserem Ergebnis für uns alle.
Das Theoriengebäude